Lettland 2006

Mein Praktikum in Liepaja, Lettland, von August bis Oktober 2006

Montag, Oktober 16, 2006

Von Krankheiten und Wagemut ...

berichte ich diesmal. Ja, krank war ich, eine ganze Woche lang hatte ich komische Magenverstimmungen mit leichten Krämpfen. Ursprungsverdacht besteht ganz klar bei der Kantine, bei der ich mir nicht 100% sicher bin, ob immer alles frisch ist, und beim Fontaine Palace, jenem Schuppen, in den wir so gerne gehen, der aber verbreiteten Gerüchten zufolge nicht ganz hygienisch arbeitet. So wurde er auch schonmal geschlossen, weil mit Abwasser gereinigt wurde, und die Leitungen, aus denen das Bier fließt seien auch nicht immer so sauber gewesen. Da ich dort kurz zuvor ein paar Bierchen verzehrt habe, liegt eben der Verdacht nahe.
Bei der Heilung hat sich der lettische hochprozentige Schnaps Rigas Melnais Balzams als äußerst effektiv erwiesen. Immer vorm Essen und/oder auch danach, und im Magen war direkt Ruhe. Wahnsinnszeug. Ergänzt durch ein paar Tabletten und Tropfen, die auch nicht besser schmeckten als der Schnaps, verhalf mir die Medikation zur Heilung binnen einer Woche. Puh!

Krank ist leider auch mal wieder mein Auto, eine Fahrt nach Riga endete damit, dass an einer Kreuzung der Kupplungszug riss und das Auto sich nicht mehr bewegen ließ. Nur durch Schieben. Ele und ich haben den Gott sei Dank recht leichten Golf über die Straße geschoben (zum Glück war der Verkehr recht dünn zu dem Zeitpunkt, aber ein paar Autofahrer haben schon blöde geschaut). Dort hielt ein äußerst netter Lette an und schlug uns vor, das Auto zur Tankstelle auf der anderen Seite zu schieben, dort könne man es erstmal stehen lassen. Schlauer Lette, dachten wir uns, und schoben es über gleiche Straße wieder zurück zum Parkplatz der Tankstelle, 5 Meter von da entfernt, wo das Auto liegengeblieben war. Er und seine hochschwangere Frau halfen tatkräftig und boten uns sogar an, einen Mechaniker zu rufen und uns zum Busbahnhof zu fahren, damit wir auch wieder weg kommen. Sehr sehr nette Menschen.
Inzwischen steht meine olle Mühle in einer Werkstatt in Riga, von der unser Chef Girts den Chef kennt, weshalb ich für Abschleppen von der Tanke zur Werkstatt und dortige Reparatur nur 19 Lats bezahlen musste. Und wo die Kiste schonmal da steht, lasse ich sie auch gleich mal für die bevorstehende 2000 km Heimreise durchchecken. Mal gespannt, was dabei rauskommt, ohje... wahrscheinlich rät mir der Mechaniker, es gar nicht erst zu versuchen. Bleib ich halt hier :-)

Unser Arbeitgeber, die Handelskammer, hatte vergangenes Wochenende eine Firmenmesse organisiert, bei der Christoph und ich tatkräftig anpackten. Am Stand der Holländisch-Lettischen Handelskammer hatten wir viel Spaß mit der guten Königin Beatrix (an alle holländischen Leser: Seid nicht böse :-) ). Fürs Helfen gabs bei der Party im Hotel, wo alle Unternehmensvertreter geladen waren, freie Drinks und freies Essen für uns. Ich, wieder vollständig genesen, musste meinen Magen auch gleich wieder auf Belastbarkeit prüfen - er hat bestanden. Party on! Der Abend im Hotel endete für uns erst um 6 Uhr morgens im Pablo, der Disko im Keller des sehr schönen Rock Cafés, die wir bis dahin nicht wirklich besucht hatten.


Eine weitere große Diskothek, die wir bis jetzt nicht ausprobiert hatten, ist das Big7. Man sagte uns, dass es typischerweise ein Schuppen für Russen ist, Letten seien dort nicht so viele. Nun, das können wir bestätigen. Aber es gibt Franziskaner Weizen für 1,20 Lats und viele knapp bekleidete Russinnen. Also haben wir es glatt 2 Stunden da drin ausgehalten. Dann wurde uns die Musik und die vom letzten bis-6-Uhr-Party-Abend - Müdigkeit zuviel.

Gestern schließlich brachen wir auf zu einem Tagesausflug nach Sigulda, einem Ort im Tal des Flusses Gauja und auch "Schweiz Lettlands" genannt. Da mein Auto noch im Check-Up ist, hatten wir freie Auswahl aus dem Fuhrpark vom Chef, in dem Gefährte mit interessanten Namen wie Golf Rolf, Golf Ficki und Dicke Bertha stehen. Da wir mit Golfs negative Erfahrungen gemacht haben, entschieden wir uns für die Dicke Bertha, einen 1981er Mercedes Kombi. Was ein Schiff (seht das Bild), aber mit einer unglaublichen Laufruhe und Gemächlichkeit.


In Sigulda angekommen, nahmen wir sofort die dortige Bobbahn in Augenschein. Hier wird jährlich ein Weltcup-Rennen ausgetragen ... wusste ich auch noch nicht. Leider kamen wir zu einem Zeitpunkt, an dem weder die Sommer- noch die normalen Eisbahn-Bobs fuhren, weil gerade das Eis für den Winter vorbereitet wird. Aber wir waren so dreist, die Bahn zu Fuß runter zu rutschen, mit teilweise waghalsigen Stunts. Der Weg zurück nach oben war wenier spaßig :-)
Waghalsig gings auch weiter. Wir nahmen die Seilbahn über das Flusstal und genossen den Blick auf das jetzt im Herbst traumhaft eingefärbte Tal. Ich gehe sogar so weit, es mit meinem schönen Moseltal zu vergleichen. Naaah, fast. Aber wirklich sehr schön!
Und um dem Wagemut die Krone aufzusetzen, habe ich endlich die Gelegenheit genutzt, einen der Punkte auf meiner "Will-ich-unbedingt-mal-gemacht-haben"-Liste zu streichen: Bungee-Springen!
Man kann nämlich aus besagter Seilbahn einen Sprung ins Flusstal machen, geht gut 40 Meter runter. Bungee-Freaks werden sagen "Nur??" ... für mich wars genug beim ersten Mal! Was für ein Gefühl! Ich hatte mit mir selbst ausgemacht, nicht lange nachzudenken sondern einfach zu springen, wenn ich da am Rand stehe. Zu meiner Überraschung funktionierte das sogar. Sooo geil, dann fällt und fällt man und kriegt keinen Ton raus, und wenn der Fall dann langsamer wird löst sich plötzlich ein Schrei aus der Kehle, und schon wird man wieder hochgerissen.
Und der beste Moment ist dann, wenn man für einen kurzen Moment quasi schwerelos in der Luft hängt, bevor der zweite Fall kommt. Wäre ich nicht mit Adrenalin vollgepumpt gewesen, ich hätte todsicher gekotzt!

Nun bricht leider schon meine letzte Woche hier in Lettland an, ab Donnerstag starten wir zu einer Rundfahrt (bittebitte, liebes Auto!) durch Litauen, mit den Hauptstationen Kaunas (Christoph hat noch viele Freunde von seinem Auslandssemester dort) und der östlich gelegenen Hauptstadt Vilnius. Und am Sonntag fahre ich dann für eine Woche nach Tartu in Estland, wo ich das letzte Semester verbracht habe. Ich mache eine Woche Urlaub, besuche eine Konferenz über Unternehmertum und Technologie im Baltikum, und werde dann Ende nächster Woche über Warschau zurück nach Hause fahren. Aber bis dahin werde ich bestimmt nochmal was geschrieben haben.

Wünsche euch noch schöne Ferien von Schule oder Semester und einen angenehmen Start der-/desselben. Oder einfach nur Frohes Schaffen oder Reisen oder was immer ihr gerade tut.

Dienstag, Oktober 03, 2006

Ausflüge nach Tartu und baltischer Herbst

Ich war noch mal in Tartu am Wochenende, ist ja immer wieder schön ;-) Ich musste feststellen, dass die Globalisierung zumindest hinsichtlich des kulturellen Austauschs super funktioniert:

Ich war zuerst auf einer sehr russischen Feier, jeder Gast sollte etwas aus der sowjetischen Vergangenheit Estlands tragen oder zu trinken mitbringen. Da ich diese Zeit nicht mitgemacht hatte und es auch zu spät war um echt russischen Vodka zu kaufen, musste ich die militärisch gekleidete Gastgeberin an der Tür davon überzeugen, dass meine roten Haare ein ganz klares Symbol sind ... die Flasche Martini, die ich noch schnell hatte besorgen können, tat ihr übriges, um uns Einlass zu verschaffen :-) Die Party war sehr sehr witzig, alles war russisch beschriftet, es gab ne Menge Vodka, und jeder bekam einen russischen Namen für diesen Abend. Ich war D(i)mitri (bzw. дмитри).
Ja, und ins Zavood sind wir auch noch, jene Kneipe, die ewig offen hat, wo jeder gute Tartuer hingeht, für den Sauberkeit keine Rolle spielt, und wo man immer bekannte Gesichter trifft. So habe also ich als Deutscher mit einem Holländer und einem Briten in Estland ein tschechisches Bier getrunken und amerikanischer Musik gelauscht. Ist doch toll, wie die Welt zusammen wächst.
Die Esten haben einen neuen Präsidenten, von dem sie sich viel erwarten. Er soll sehr europaorientiert sein und dem Land zu internationaler Aufmerksamkeit verhelfen. Als Ausdruck ihrer Freude haben viele Esten spontane Feiern veranstaltet - krass. Hat bei uns jemand Party gemacht, als Köhler Präsident wurde? Und noch besser: Es gibt in quasi jeder Stadt in Estland eine Straße, die "Rüütli" heißt, der Genitiv von "Rüütel", das bedeutet "Ritter" auf deutsch. Nun hieß der alte Präsident zufällig auch Rüütel mit Nachnamen, Grund genug für die politisch aktiven Tartuer Studenten, die "Rüütli"-Straßenschilder durch "Ilvese" zu ersetzen, dem Namen des neuen Präsidenten.

Mittlerweile bin ich nicht mehr in Riga am Arbeiten, sondern wieder zurück im ruhigen beschaulichen Liepaja. Hier ist es deutlich angenehmer, die Arbeit ist nicht ganz so anstrengend, und die Kneipen deutlich billiger. So waren Christoph und ich letzte Woche gleich zweimal im Fontaine Palace, dem konkurrenzlos besten, weil sehr alternativen Club/Kneipe/Kaschemme/Schuppen ... keine Ahnung wie man es nennen soll, es ist von allem ein bisschen. Jedenfalls kostet der halbe Liter Bier umgerechnet 90 Cent, Dienstags ist immer Striptease (Christoph kennt schon 2 der 3 Stripperinnen persönlich, ich inzwischen auch. Nette Mädels ... die eine ist 19, hat ein Kind, und ihr Hauptberuf ist eben Strippen), und Donnerstags sind oft Konzerte. Letztes Mal haben 4 Bands gespielt, eine davon deutsch, und die einen waren Brasilianer. Sehr amüsant und laut, und vom Gesang war nix zu verstehen, wir konnten nichtmal sagen ob der jetzt portugiesisch oder englisch "singt" (eher grunzt). Und das Publikum bestand aus gerade mal 10-15 unheimlich betrunkenen Letten. Das ist natürlich alles und völlig und total unter unserem Niveau sowas, wir gehen da ja immer nur hin um uns selbst zu bestätigen, dass wir zivilisiert sind. Und das müssen wir eben im Schnitt zweimal die Woche machen.
Aber es gibt Hoffnung für Lettland, dieses Bild zeigt ganz klar, dass auch hier kulturelle Werte existieren, auch wenn sie wahrscheinlich aus Deutschland stammen (Bild anklicken und links und rechts neben dem Nummernschild genau hinschauen):


Oho, und wir sind sehr aktiv, gehen jetzt immer tapfer nach der Arbeit in einen Fitness Club umme Ecke. Gestern abend als wir da raus kamen hat es zum ersten Mal so richtig mies geregnet, seit wir hier sind. Die Abwassersysteme, sofern es sie gibt, waren offenbar überlastet, denn wir standen vor einem waschechten See, und die Straße war ein Fluss. Echt geil, die Autos waren teilweise auf Reifenhöhe tief im Wasser. Wir haben dann versucht Landbrücken zu finden, um nicht völlig nass zu werden. Unsere Suche wurde durch die Tatsache, dass es zwar Straßenbeleuchtung gibt, diese aber nicht eingeschaltet war (klar, es war ja auch schon nach 22h, braucht man ja dann nicht mehr), gewiss nicht erleichtert. Aber wir kamen doch noch heil und verhältnismäßig trocken daheim an.

Heute, zum Tag der deutschen Einheit, sind wir beiden natürlich früh aufgestanden, haben die deutsche Fahne gehisst/über dem Fenster aufgehängt (warum, Christoph, hast Du die mitgenommen??), und freundlich davor posiert:


So, jetzt muss ich aber mal was arbeiten hier. Im höchsten Bürogebäude Liepajas mit Blick auf den belebten Marktplatz. Viele Grüße in alle Welt!

P.S.: Ich lebe immer noch ohne Handy, äußerst entspannend. Es macht Verabredungen etwas schwieriger und weniger flexibel, aber das Leben wird deutlich entschleunigt. Sehr zu empfehlen an alle!